Blog Finanzplatz Stuttgart

Der Finanzplatz muss sich neu erfinden

Die Börse Stuttgart betritt mit ihrer Digitalstrategie Neuland.

Damals, im Juni 2017, war es noch Neuland. Als die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) in einem Pilotprojekt mit der Daimler AG erstmals die Blockchain-Technologie zur Abwicklung eines Schuldscheins über 100 Millionen Euro einsetzte, fuhr man deshalb zweigleisig. Neben der digitalen Abbildung wurde der Emissionsprozess insbesondere wegen noch offener regulatorischer Fragen in analoger Form auf Papier begleitet. Heute ist man schon deutlich weiter. Anfang des Jahres hat die LBBW mit der MEAG, dem Vermögensmanager von Munich Re und ERGO, ihre erste, komplett digitale Geldmarkttransaktion mithilfe der Blockchain durchgeführt. „Das war mehr als bloß ein Test“, sagt dazu Guido Zimmermann, Senior Economist bei der LBBW. Während auf herkömmlichem Weg die Emission von Geldmarkttiteln sehr komplex ist und rund zwei Tage dauert, verkürzt die Abwicklung über die Blockchain eine solche Transaktion auf unter eine Stunde. Die neue Technologie macht Prozesse fälschungssicher und effizienter, sie kann aber auch Intermediäre wie Banken oder Börsen überflüssig machen. Aber genau das ist nach eigener Aussage der Grund, warum sich die LBBW bundesweit als eines der ersten Geldinstitute dem Thema Blockchain intensiv angenommen hat. „Wir wollten vorne mit dabei sein, wenn es für Banken gilt in der digitalen Welt neue Rollen einzunehmen“, macht Zimmermann klar.

 

Denn sind die notwendigen Abläufe einmal auf die Blockchain gehoben, kann die neue Technologie ihr Effizienzpotential ausspielen. Damit es aber soweit kommen kann, müssen Themen wie Compliance, Regulierung und rechtliche Rahmenbedingungen in einem aufwändigen Prozess in die neue Technologie integriert werden. „Genau dies können wir leisten“, erklärt Zimmermann mit Verweis auf die klassische Rolle der Branche, den verlässlichen Ablauf von Geschäften zu garantieren. „Weil die Blockchain alles andere als trivial ist, wachsen den Banken hier neue Funktionen zu“, sagt er. Aber nicht nur das - es können daraus auch neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. Diese sind zwar noch in der Entstehung. „Wir reden zunächst immer von Best Cases, nicht von Business Cases“, so Zimmermann. Aber der Umstand, dass die Bank hier einen neuen Prozess und einen Marktplatz, inklusive Beratungsleistungen, anbieten kann, stellt das Potenzial für neue Ertragsquellen dar, die anderes, wegbrechendes Geschäft ersetzen könnten. Auf der anderen Seite haben die Nutzer den Vorteil, dass sie niedrige Kosten haben, sobald sie an die Plattform angeschlossen sind.

 

Mit dem Joint-Venture Debtvision hat die LBBW zusammen mit der Börse Stuttgart eine solche digitale Plattform 2018 für die Vermarktung von Schuldscheinen ins Leben gerufen. Per Mai 2019 wurden bereits mehr als 20 Transaktionen über Debtvision platziert, auf Investorenseite sind mittlerweile rund 220 Adressen angeschlossen. Und seit diesem Jahr können neben dem Schuldschein auch Namensschuldverschreibungen auf Debtvision vermarktet werden. Die Integration der Blockchain ist in Vorbereitung. „Wir werden damit einen komplett durchdigitalisierten Prozess anbieten können“, sagt Zimmermann. Und für die Zukunft beschreibt er die visionäre Vorstellung eines Ökosystems, das digitale Plattformen von Großkonzernen wie Daimler oder Bosch, mittelständischer Industrie und Banken miteinander verbindet. „Damit werden die einzelnen Branchen enger vernetzt“, sagt Zimmermann. Voraussetzung dafür ist freilich, dass sich alle Beteiligten in Richtung Digitalisierung auf den Weg machen. Es sei kein angenehmer Prozess, „sich selbst zu disruptieren“, wie Zimmermann sagt. Aber vor dieser Herausforderung stehe jeder Mittelständler.

 

Juniorpartner der LBBW bei dem Joint-Venture Debtvision ist mit einem Anteil von 20 Prozent die Börse Stuttgart. Nachdem schon vor geraumer Zeit die Marktführerschaft im intermediärgestützten Börsenhandel (ohne Xetra) an die Berliner Tradegate verloren wurde, treibt der schwäbische Handelsplatz seine Digitalisierung voran. Sichtbares Zeichen dafür ist die Smartphone-App Bison, mit der seit Februar dieses Jahres Kryptowährungen per Handy handelbar gemacht wurden. Dass ein solides Unternehmen wie die Börse ausgerechnet mit Bitcoin & Co. seine Digitalstrategie einläutet, hat einen einfachen Grund. „Wir sind mit Kryptowährungen gestartet, weil der Handel mit diesen digitalen Assets unter den gegebenen Rahmenbedingungen direkt umsetzbar war“, sagt Alexander Höptner, seit März 2018 Vorsitzender der Geschäftsführung der Börse Stuttgart. Außerdem sollen auf diese Weise neue Kundengruppen gewonnen werden. Sobald es der Gesetzgeber ermöglicht, plant die Börse, weitere Assetklassen wie Aktien oder Anleihen in digitaler Form handelbar zu machen. Voraussetzung dafür ist, dass sich das deutsche Recht für die digitale Abbildung klassischer Wertpapiere öffnet und eine physische Urkunde nicht mehr zwingend ist. Und genau für diesen Zeitpunkt will die Börse Stuttgart gerüstet sein. „Wir wollen uns an die Spitze der Tokenisierung setzen“, macht Höptner klar. Darunter wird die Umwandlung realer Assets, etwa Geld oder Wertpapiere, in eine virtuelle Form verstanden, wie es sie bei Kryptowährungen eben schon gibt. Auch bei der „Tokenisierung“ bildet die Blockchain die Basis, auf der die Token abgebildet werden. Höptner schwärmt dabei von den weitreichenden Möglichkeiten, die diese Methode bieten kann. Neben Wertpapieren oder Zahlungsmitteln sieht er auch Maschinenkapazitäten für „sehr gut tokenisierbar“ an. Dies wäre etwa dann denkbar, wenn ein mittelständisches Unternehmen Kapazitäten seines Maschinenparks vermietet und zur automatischen Verrechnung einen Token herausgibt. „Über den Token erwirbt also eine andere Firma ein Nutzungsrecht an einer fremden Maschine“, so Höptner, der auch die Unternehmensfinanzierung für „tokenisierbar“ erachtet.

Nicht von Ungefähr suchten immer wieder Mittelständler den Kontakt zur Börse Stuttgart, um die Möglichkeiten der Tokenisierung zu auszuloten.

 

Vor diesem Hintergrund beschreibt Höptner die Investitionen in die Digitalisierung, die sich in niedriger zweistelliger Millionenhöhe bewegen, als Investitionen ins bestehende Kerngeschäft – nur eben mit einer anderen Technologie. Dazu zählt auch eine neue Partnerschaft mit der Axel Springer SE, in deren Rahmen der Handelsplatz Anlegern einen direkten Zugang zu digitalen Vermögenswerten ermöglichen will, der bis hin zu Handelsmöglichkeiten reicht. „Dazu entwickeln wir einen neuen Handelsplatz für Kryptowährungen und Token, der rund um die Uhr verfügbar sein soll“, macht Höptner klar. Noch in diesem Sommer soll das Ganze an den Start gehen. Dass die Börse mit ihrer gesamten Digitalisierungsstrategie ein Risiko eingeht, will er gar nicht verschweigen. „Wenn die Rechnung aufgeht, sind wir vorne mit dabei“, so der Börsenchef.

 

Neues Denken in Sachen Digitalisierung ist auch im Bereich Unternehmenskunden bei der Commerzbank gefragt. Um Mittelständlern eine Steigbügelhilfe zu bieten, hat das Institut mit Openspace 2017 eine 100-prozentige Tochtergesellschaft gegründet. Schließlich würden einer hauseigenen Umfrage zufolge gut 80 Prozent der Kunden von ihrer Hausbank erwarten, dass sie den Firmen bei der digitalen Transformation zur Seite stünden, sagt dazu Siegfried Stangohr, Niederlassungsleiter der Commerzbank in Stuttgart. Die in Berlin ansässige Tochtergesellschaft soll also mittelständische Unternehmen dabei unterstützen, ihre Chancen in der digitalen Ökonomie zu erkennen und zu entwickeln. Dabei geht es Openspace darum, die Firmen dafür zu inspirieren, wie sie Digitalisierungsprozesse konkret angehen können und welche Methodik sie dafür am besten anwenden sollten. „Zusammen mit den Firmen entwickeln wir eine digitale Vision“, erläutert Joachim Köhler, Geschäftsführer von Openspace GmbH, die gut 50 Projekte mit Mittelstandlern hinter sich hat. Einer davon ist die die Gemüsering Stuttgart GmbH, die das Zusammenspiel zwischen deutscher regionaler Produktion, Disposition, Vermarktung und dem Lebensmittel-Einzelhandel koordiniert. In einem von Openspace geleiteten Workshop hat das Unternehmen 2018 verschiedene neue, digitale Geschäftsmodelle sowie elektronische Prozesse zur Verbesserung der eigenen Effizienz in der Warenwirtschaft und Rechnungslegung entworfen. „Dabei wurden Strategien skizziert, von denen wir uns Wettbewerbsvorteile am Markt erhoffen“, macht der Geschäftsführer von Gemüsering, Jochen Schloemer, klar. Dazu zählt unter anderem eine verbesserte Kommunikation mit den Geschäftspartnern, die auf einer App basiert. „Sollten nur zwei oder drei der entwickelten Projekte in den nächsten zwölf Monaten umgesetzt werden, hätte sich der Aufwand für uns gelohnt“, sagt Schloemer. Das Honorar für die Dienstleistung von Openspace variiert natürlich von Fall zu Fall und liegt für einen einwöchigen Workshop, wie ihn Gemüsering durchgeführt hat, bei einem mittleren fünfstelligen Euro-Betrag. „Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe, so dass das Unternehmen uns nach einer gewissen Zeit nicht mehr benötigt“, sagt Köhler.

 

Stangohr weist in diesem Kontext noch auf weitere Effekte hin. „Wenn wir die Kunden bei der digitalen Transformation begleiten, lernen wir deren Geschäftsmodell und strategische Stoßrichtung noch besser kennen“, sagt der Mittelstandsexperte. Dadurch könnten Kreditentscheidungen auf einer festeren Basis getroffen werden. Hinzu kämen die Geschäftskontakte, die über das Netzwerk der Commerzbank etwa zu Startups geknüpft werden könnten. Ergo: „Wenn wir die Kunden bei der digitalen Transformation mitnehmen, ändert sich auch das traditionelle Banking“, macht Stangohr klar.

 

Networking wird auch bei der Deutschen Bank großgeschrieben, wenn es um die Unterstützung von Start-ups geht. In eigens für Innovationsimpulse geschaffenen Veranstaltungen bringt das Institut innovative Wachstumsunternehmen mit klassischen Mittelständlern, aber auch VC-Investoren zusammen und stelle so ihr Netzwerk zur Verfügung, wie Waldemar Kuhn, Leiter des 15-köpfigen Startup-Teams der Deutschen Bank in Stuttgart, erläutert. „Wir verstehen uns als Impulsgeber“, sagt er mit Blick auf verschiedene Veranstaltungsformate, die unter anderem „die Lust auf Neues“ oder die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle anstoßen sollen. Aus diesem Grund verfügt die Deutsche Bank seit vielen Jahren über Teams mit tiefgehendem Fachwissen in Bereichen wie Life Sciences, den erneuerbaren Energien oder der Automobil- und Maschinenbau-Industrie. „Wer als Bank für Startups attraktiv sein will, sollte auch ihre Technologien verstehen“, sagt dazu Kuhn. Schließlich benötigt man mehr als nur reines Finanzwissen, um die Geschäftsmodelle von Startups mit starkem Wachstumsdrang im Gegensatz zu klassischen Neugründungen nachvollziehen zu können. Erst recht, wenn es sich um ein Geschäftsmodell wie das der Synapticon GmbH mit langen Entwicklungszyklen handelt.

 

„Da muss die Hausbank schon verstehen, dass für Entwicklung die ersten Jahre nur Geld ausgegeben wird, bevor endlich erste Erträge erwirtschaftet werden“, sagt Nikolai Ensslen, Gründer und CEO des Startups mit Sitz in Schönaich, das in den Bereichen Industrierobotik, fahrerlose Transportsysteme und mobile Service-Robotik tätig ist. Hinzu komme der Umstand, dass bei mit Risikokapital (Venture Capital) finanzierten Firmen der Abschluss einer Finanzierungsrunde auch mal etwas länger dauern kann als geplant. Für diese Besonderheiten habe die Deutsche Bank von Anfang an Verständnis aufgebracht - unter anderem als Synapticon 2017 dringend ein Brückendarlehen benötigt hat, bis endlich eine anstehende Finanzierungsrunde unter Dach und Fach gebracht war. „Innovativen Gründern muss man sich anders nähern als Jungunternehmen in klassischen Branchen – darauf haben wir uns eingestellt“, sagt Kuhn von der Deutschen Bank.

 

Genauso wie die Finanzinstitute bei den Firmenkunden auf neue Kundengruppen und -wünsche reagieren, müssen sie sich auf die sich ändernden Bedürfnisse der Privatanleger einstellen. Insbesondere durch den Trend zu immer mehr Onlinebanking sind die Filialnetze der Banken einem Schrumpfprozess ausgesetzt, wie das Beispiel BW-Bank zeigt, die ihre mit Mitarbeitern besetzten Geschäftsstellen in den vergangenen drei Jahren um 36 auf 150, davon 130 in Baden-Württemberg, reduziert hat. Parallel dazu ist die Entwicklung mit hohen Investitionen verbunden, was den Druck auf den ohnehin scharfen Wettbewerb weiter erhöht – und das bei einem anhaltend extrem niedrigen Zinsniveau. Allein im Raum Stuttgart, von wo aus oft der gesamte südwestdeutsche Markt bedient wird, sind es rund 30 Kreditinstitute einschließlich der Sparkassen und Genossenschaftsbanken sowie um die 100 freie Vermögensverwalter, die mit ihren Private Banking-Angeboten um die Gunst wohlhabender Kunden buhlen. Vor dem Hintergrund dieser harten Konkurrenz und den gestiegenen Anforderungen an die Digitalisierung würde es manchen Beobachter nicht wundern, wenn es zu einer Konsolidierung der Branche käme. „Denn all‘ dies führt dazu, dass etablierte Geschäftsmodelle unter Druck geraten“, ist Markus Heilig, Stuttgarter Niederlassungsleiter der Bethmann Bank, überzeugt. Dazu trägt nach seiner Überzeugung die Notwendigkeit einer höheren Spezialisierung bei, die ausschließlich größere Institute leisten könnten. „Denn die Vielfalt der Kundenbedürfnisse kann nur ein Betreuungsteam abdecken“, ist Heilig überzeugt. Verschärfend hinzu kommt der wachsende Kundenwunsch nach digitalisierten Angeboten, die nur von den Anbietern gestemmt werden können, die auch in der Lage sind zu investieren. Heilig nennt in diesem Kontext die sichere und transparente Archivierung von Portfolioberichten, Kontoauszügen und Wertpapierabrechnungen. Nicht umsonst steckt die Bethmann-Muttergesellschaft ABN Amro derzeit 160 Millionen Euro in die Digitalisierung ihrer Töchter. „Auf diese Weise kombinieren wir unsere persönliche Kundenbetreuung mit digitalen Angeboten“, erklärt Heilig.

Doch trotz des intensiven Wettbewerbs und des damit verbundenen Margendrucks bleibt Stuttgart offenbar ein begehrtes Pflaster für Institute, die die vermögende schwäbische Privatkundschaft in ihrem Fokus haben. So hat erst im September 2017 das Schweizer Bankhaus Pictet eine Niederlassung in Stuttgart eröffnet. Und just am 1. Juli ist die BNP Paribas mit dem Aufbau eines Wealthmanagements für den Südwesten in Stuttgart an den Start gegangen. Geleitet wird der neue Standort von Domenico Gehling, einem Kenner des heimischen Marktes, der zuvor von 2006 an für das Private Banking der Hypovereinsbank in der Landeshauptstadt tätig war. Dass die Ankunft derartiger Player den Wettbewerb im Bereich Vermögensverwaltung und Private Banking am Platz Stuttgart noch weiter verschärfen wird, steht für Stephan Jugenheimer, Leiter Wealth Management der Deutschen Bank in Süddeutschland, außer Frage. „Newcomer müssen daher einen langen Atem haben“, sagt er. Warum dennoch immer wieder neue Anbieter nach Stuttgart drängen? „Nun, als Privatbank kann man es sich eben kaum leisten, in einem wichtigen Markt wie Stuttgart nicht präsent zu sein“, resümiert Jugenheimer.

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